"Die Scham muss die Seite wechseln"
Volles Haus im Kulturwerk bei Veranstaltung zum Gewaltschutz mit Bundestagsabgeordneter Heidi Reichinnek
Über 50 Leute fanden am vergangenen Donnerstag, 21. November 2024, ihren Weg ins Kulturwerk zur Veranstaltung „Gemeinsam gegen Gewalt an Frauen“. Zu diesem Diskussionsabend hatten der Kreisverband Die Linke Nienburg gemeinsam mit der Bundestagsabgeordneten und Linken Spitzenkandidatin Heidi Reichinnek eingeladen. Gemeinsam mit Reichinnek saßen außerdem Editha Schwohl-Maßberg, Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Nienburg, Renate Bunke von der Beratungs- und Interventionsstelle bei häuslicher Gewalt (BISS) und Jennifer Schmutzler vom Haus Luise (Herberge zur Heimat e.V.) auf dem Podium. Moderiert von Celsy Dehnert, Autorin und Kreisvorstandsmitglied bei Die Linke Nienburg, berichteten Schwohl-Maßberg, Bunke, Schmutzler und Reichinnek von ihrer Arbeit rund um den Gewaltschutz von Frauen sowie von den bestehenden politischen Herausforderungen, die sich unter anderem auch aus den vorgezogenen Bundestagswahlen ergeben.
So mahnte Renate Bunke von der BISS deutlich an, dass sie und ihre Kolleginnen bangend nach Berlin schauen und befürchten, dass das im Koalitionsvertrag verankerte geplante Gewalthilfegesetz nun doch nicht mehr verabschiedet würde. Mit Hilfe dieses Gesetzes sollte u.a. die Finanzierung von Frauenhäusern und Beratungsstellen verbessert werden – angesichts bundesweit 14.000 fehlender Frauenhausplätze ein dringend notwendiges Vorhaben. Auch für den Landkreis Nienburg berichtet Bunke von steigenden Zahlen – immer häufiger kommt es zu häuslicher Gewalt, immer mehr Menschen benötigen die Hilfe von Renate Bunke. Dabei bleibt es selten bei einer einzelnen Beratung, oft ist der Weg lang, bis eine angemessene Lösung gefunden ist. [TF1]
An dieser Stelle machte die Spitzenkandidatin der Linken, Heidi Reichinnek deutlich, dass die Linke sich im Bundestag für eine schnelle Verabschiedung des Gewalthilfegesetzes einsetzt: „Jede dritte Frau erlebt in ihrem Leben körperliche oder sexualisierte Gewalt. Deshalb machen wir uns dafür stark, dass das Gesetz noch in dieser Legislaturperiode kommt.“ Angesprochen auf die kurze Zeit bis zur erwarteten Auflösung des Bundestage erwiderte Reichinnek, dass das Fenster für einen erfolgreichen Beschluss des Gewaltschutzgesetzes im Bundestag noch nicht geschlossen ist: „Der Bundestag ist handlungsfähig und der Bundestag ist immer noch das gesetzgebende Organ in der Bundesrepublik Deutschland, ergo kann das Gewaltschutzgesetz noch im Dezember oder Januar beschlossen werden. Und wenn die FDP hier bisher blockiert hat, dann ist diese jetzt ja sicher kein Problem mehr!“
Was Jennifer Schmutzler im Haus Luise, Niedersachsens einziger Wohnungslosenunterkunft für Frauen, beobachtet: Die betroffenen Frauen werden immer jünger, die meisten im Haus Luise betreuten Frauen sind jünger als 30 Jahre. Auch in Sachen Wohnungslosigkeit von Frauen ist die Situation brisant. Obwohl das Haus Luise erst im September seine Türen geöffnet hat, sind bereits alle 10 Plätze vergeben, es mussten bereits Frauen abgewiesen werden, wie Schmutzler berichtete. [TF2] Jennifer Schmutzler machte in der lebhaften Diskussion mit den Besucher*innen der Veranstaltung deutlich, dass es für Frauen wichtig ist, struktureller Gewalt zu entkommen. Dies ist in gemischten Unterkünften kaum möglich. Daher sind die auskömmliche Finanzierung von frauenspezifischen Angeboten enorm wichtig. Gleichzeitig muss der Ausbau und die Finanzierung von Frauenhäusern gesichert werden. Sie betonte zudem , dass Armut die Betroffenheit von Gewalt bei Frauen deutlich steigere.
Hier hakte die Gleichstellungsbeauftragte Schwohl-Maßberg ein und verwies insbesondere auf strukturelle Benachteiligungen von Frauen hin. „Noch immer gibt es den sogenannten Gender-Pay Gap, welcher bedeutet, dass Frauen, die dieselbe Arbeit verrichten, dafür nicht dasselbe Geld bekommen. Noch immer verrichten Frauen die Mehrheit der Care-Arbeit und sind somit nicht nur im Erwerbsleben eher von Armut und wirtschaftlicher Unsicherheit betroffen, sondern auch von Armutsrenten.“
Ein Problem sei auch die mangelnde Repräsentation von Frauen in der Politik. So forderte sie sehr deutlich: „Wir brauchen mehr Frauen in den Parlamenten!“ Denn dass der Gewaltschutz und Frauen- bzw. Familienpolitik im Allgemeinen – auch kommunal – so einen schwierigen Stand hätten, sei vor allem auch der Tatsache anzulasten, dass in kommunalen Gremien vor allem Männer die Entscheidungen treffen. Die stellvertretende Vorsitzende des Kreisverbandes Anne-Mieke Bremer ergänzte: „Habt den Mut euch in die Kämpfe um Gleichberechtigung einzubringen, denn wenn die Laternen aus bleiben, wenn die Frauenhäuser unterfinanziert sind und Kolleginnen mit wenig Stunden Beratungsangebote für den gesamten Landkreis aufrechterhalten müssen, so sind das Entscheidungen von Gremien, die mehrheitlich von Männern besetzt werden, welche wiederrum antiemanzipatorische Entscheidungen treffen!“
Hier stieg die Abgeordnete Heidi Reichinnek noch einmal ein: „Es ist ein Unding, dass wir Schwangerschaftsabbrüche weiterhin als Straftat ahnden, obwohl eine Mehrheit von über 80% der Deutschen für eine Abschaffung der Strafbarkeit sind. Der Paragraf 218 im Strafgesetzbuch muss weg!“
Die Veranstaltung beendete die Moderatorin Celsy Dehnert mit einem Appell: „Lasst uns in dieser Debatte jedoch nicht nur die Frauen in den Fokus nehmen. Ziel muss es sein, dass Männer keine Gewalt mehr an Frauen ausüben – die Scham muss die Seiten wechseln. Wir sollten nicht Frauen dafür beschämen, Opfer zu werden, sondern Männer müssen sich schämen, wenn sie zum Täter werden oder Täter unterstützen. Männer müssen in ihren Umfeldern die Gewaltspirale durchbrechen, Unrecht benennen und sich von Tätern distanzieren. Nur so können wir patriarchale Gewalt beenden.“